Stellungnahme

zur Leitlinie Müdigkeit vom Bündnis ME/CFS vom 18.03.2018


Das Bündnis ME/CFS distanziert sich klar von der neuen S3-Leitlinie Müdigkeit (veröffentlicht 2018). 

 

Zusammenfassung:

 

  • Die ICD-10 ist für Ärzte, die in Deutschland als Ärzte zugelassen und tätig sind, eine amtliche Klassifikation und rechtsverbindlich für das Gesundheitswesen. Diejenigen Ärzte, die diese verbindliche Verordnung nicht beachten, würden durch diese Nichtbeachtung neben anderen Vorschriften die ärztliche Berufsordnung verletzen. Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM) ist die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland. Danach wird ME/CFS wie folgt klassifiziert:

             G 93.3 Chronisches Müdigkeitssyndrom [Chronic fatigue syndrome]                            Inkl.:

             Chronisches Müdigkeitssyndrom bei Immundysfunktion

             Myalgische Enzephalomyelitis

             Postvirales Müdigkeitssyndrom

ME/CFS ist somit klar als neurologische Erkrankung unter sonstige Krankheiten des Gehirns klassifiziert. Aus unserer Sicht hat die anerkannte Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis (ME)/ Chronic Fatigue Syndrome (CFS) somit in einer Leitlinie, die lediglich das Symptom Müdigkeit beinhaltet, nichts zu suchen. Insbesondere, da die Leitlinie Müdigkeit auf S. 13 vorschlägt: "Im ICD 10 wird das Symptom am besten mit R 53 kodiert.“ Diese und zahlreiche andere Textpassagen machen deutlich, dass verschiedene ICD-Klassifizierungen unzulässig vermischt werden.

 

  • Internationale Gesundheitsbehörden wie CDC, NIH, IOM und andere haben sich in ihren Leitlinien zu ME/CFS längst von den bisherigen Empfehlungen zu ME/CFS distanziert. Es ist bedenklich, dass sich deutsche Fachgesellschaften weiter an veralteten Therapieempfehlungen und Beschreibungen der Erkrankung ME/CFS festhalten, diese lediglich als Befindlichkeitsstörung postulieren und das Ganze in eine Leitlinie packen, die lediglich ein einzelnes Symptom beschreibt und dabei nicht in der Lage ist, „Fatigue“ (bekanntes medizinisches Symptom des Zentralen Nervensystems) von „Müdigkeit“ (Befindlichkeitssymptom) zu unterscheiden. Selbst aus dem Ursprungsland Großbritannien wurde die alte Leitlinie für eine vollständige Überarbeitung ausgesetzt und der neue veröffentlichte Praxisleitfaden für Ärzte enthält nicht mehr die veralteten Empfehlungen. CBT und GET sind auch in Großbritannien umstritten. Dies führte zu einer Aussetzung der NICE Guideline.

 

  • Wir sehen u.a. in der Leitlinie Müdigkeit die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis missachtet. Sie verletzt eindeutig die formalen Prinzipien von SGB, DIMDI und WHO-ICD. Wir möchten Sie auf diesem Wege gerne auf Ihre juristische Verantwortung hinweisen. Als Herausgeberin hat die DEGAM die vollständige inhaltliche und formale Kontrolle über die zu veröffentlichenden bzw. veröffentlichten Werke. Frau Dr. Barzel ist als Leiterin der Geschäftsstelle der DEGAM formaljuristisch mit der Geschäftsführung der DEGAM betraut und somit verantwortlich. DEGAM und AWMF sind als eingetragene Vereine organisiert. Bei einem eingetragenen Verein haften die Mitglieder des Vorstandes mit ihrem Privatvermögen gegen etwaigen Schadensersatz. Frau Prof. Dr. Baum ist geschäftsführender Vorstand der DEGAM. „Der Vorstand ist Organ des Vereins und repräsentiert ihn.“ Sowohl der ehrenamtlich als auch der hauptamtlich gegen Entgelt tätige Vereinsvorstand haften persönlich gegenüber dem Verein oder Dritten für Schäden, die durch eine fahrlässig begangene Pflichtverletzung bei der Ausübung ihrer Vorstandstätigkeit entstehen.

 

  • Die Empfehlungen, v.a. zu mangelnder Diagnostik und aktivierendem Training widersprechen aus unserer Sicht klar den ärztlichen Sorgfaltspflichten und rufen zu Behandlungsfehlern auf. Damit werden die ärztliche Approbationsordnung, der Behandlungsvertrag nach BGB sowie das im Grundgesetz festgelegte Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt.

 

  •  In Kapitel 5.7, dass vermeintlich ME/CFS behandelt, basieren mindestens 8 Studien auf die sogenannten Oxfordkriterien. Weitere zitierte Studien gelten zumindest als umstritten, u.a. basierend auf Holmeskriterien. 11 der zitierten Studien wurden wegen verschiedener Mängel vom US Institute of Medicine (IOM) in dessen Bericht ausgeschlossen. Einige Studien haben zudem keinen direkten Bezug zu ME/CFS. In weiteren Studien sind die untersuchten Patientenkohorten zu niedrig. Die in den Studien zum Teil benannte Begrenztheit, wurde nicht mit erwähnt.  Auf Studien, die nur in wenigen Gebieten eines Bezirkes in einer Region Anwendung fanden, können keine Erkenntnisse in Bezug auf breite Bevölkerungsgruppen eines Landes gewonnen werden. Studien über schwererkrankte ME/CFS-Patienten fehlen gänzlich.

 

Fazit NICE Guidelines UK:

Die Proteste gegen die NICE Guidelines in Großbritannien führten zu einer Rücknahme der LL und der Ankündigung diese in den nächsten zwei Jahren vollständig zu überarbeiten. NICE schreibt u.a. dazu:

 

„Nach eingehender Prüfung der Informationen von Interessengruppen, einschließlich neuer Beweise hat NICE beschlossen, die Leitlinie mit einem geänderten Anwendungsbereich vollständig zu aktualisieren.

 

Die in der Leitlinie empfohlenen Interventionen basieren auf dem biopsychosozialen Modell. Die Stakeholder haben darauf hingewiesen, dass sich seit 2007 in Bezug auf biomedizinisches Wissen viel verändert hat. Biologische Modelle, die auf messbaren Anomalien basieren, müssen möglicherweise stärker berücksichtigt werden.

 

Es werden neuere Begriffe für die Krankheit vorgeschlagen, z.B. Das US Institute of Medicine 2015 schlägt eine systemische Belastungsintoleranz-Krankheit (SEID) vor, während andere Interessengruppen empfehlen, dass die Myalgische Enzephalomyelitis der bevorzugte Begriff sein sollte.

 

Schweres ME ist in der Richtlinie nicht gut abgedeckt und kann tiefgreifende Probleme verursachen. Einige Interessenvertreter wiesen darauf hin, dass Eltern von Kindern mit schweren ME manchmal feststellen, dass falsche Behauptungen über Kindesmissbrauch gegen sie erhoben werden, weil sie die Symptome, die Pflege und die Behandlung durch Angehörige der Gesundheitsberufe und Schulen nicht richtig verstanden haben.

 

Die Oxford-Kriterien (die für die Rekrutierung zahlreicher Studien verwendet werden, die in der Richtlinie enthalten sind) und die NICE-Kriterien sind zu weit gefasst.

Neuere diagnostische Richtlinien des US Institute of Medicine (2015) und International Consensus Criteria (2011) unterscheiden sich von den NICE-Kriterien. In jüngster Zeit wurden auch spezifische pädiatrische Kriterien vorgeschlagen.

 

Eine verspätete Diagnose ist ein Problem.

 

Es wurden Bedenken über Fehldiagnosen geäußert und Überschneidungen mit anderen Erkrankungen wie z.B. perniziöse Anämie, Ehlers-Danlos-Syndrom und Posturales Tachykardie-Syndrom.

 

Die Berücksichtigung neuer Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Metabolomik und der Biomarker kann gerechtfertigt sein.

 

Es gibt Unterschiede im Management der Primärversorgung, und es gibt Hinweise auf einen ungleichen Zugang zu spezialisierten Dienstleistungen.

 

Die Stakeholder stellten fest, dass die Evidenzbewertungen von NICE nicht auf dem neuesten Stand sind, weshalb die Patienten kein vollständiges Bild über die empfohlenen Behandlungen erhalten (wie z.B. Studien, die gezeigt haben, dass die kognitive Verhaltenstherapie[CBT] ineffizient ist oder die abgestufte Bewegungstherapie[GET] schädigt), und auch nicht über alternative Behandlungen, die die informierte Einwilligung beeinträchtigen können.

 

Eine stärkere Unterstützung für Allgemeinmediziner (von denen sich viele in dieser Hinsicht schlecht ausgerüstet fühlen) ist erforderlich, um bei der Diagnose zu helfen, genaue Informationen bereitzustellen (z.B. über das Risiko und den Nutzen von Behandlungen) und zu überlegen, wie ein "individualisierter Managementplan" in der Praxis aussehen könnte.

 

Die US Centers for Disease Control and Prevention haben CBT und GET von ihrer Liste der empfohlenen Behandlungen für CFS/ME gestrichen.

 

Es wurden Beweise für Schäden von GET angeführt, und Pacing sollte als Option in Betracht gezogen werden.

 

Wichtige Studien (insbesondere PACE[Pacing, graded Activity, and Cognitive Behavioral Therapy; eine randomisierte Evaluation], aber auch Cochrane Reviews von CBT und GET) wurden kritisiert, weil sie die Wirksamkeit von Interventionen erhöht haben. Zu den Problemen gehört, dass einige Studien nur eine Ermüdung in der Falldefinition erfordern, die andere ermüdende Bedingungen mit sich bringen kann, die die Ergebnisse erschweren können.

 

Es kann Unterschiede zwischen Menschen mit CFS und mit ME geben, die berücksichtigt werden sollten.

 

Patientenbefragungen scheinen den Ergebnissen randomisierter kontrollierter Studien und systematischer Übersichtsarbeiten zur Sicherheit und Wirksamkeit von CBT, GET und Pacing zu widersprechen.“

 

Fazit Bündnis ME/CFS

Die gravierenden Auswirkungen der fehlerhaften Leitlinie Müdigkeit in Zusammenhang mit der Versorgung, Betreuung, Kindeswohl und sozialer Existenz sollte umgehend im Zusammenhang mit ME/CFS jedem Arzt in der Allgemeinmedizinischen Praxis zugänglich gemacht werden.

 

Der Umgang mit den beteiligten Patientenorganisationen vermittelt zudem den Eindruck, diese aus reiner Pflichterfüllung einzubeziehen, ohne an deren Erfahrungen und Expertise teilhaben zu wollen. Von einer tatsächlichen Beteiligung der Patientenorganisationen kann aus unserer Sicht derzeit nicht die Rede sein, jedenfalls nicht in unserem Fall.

 

Der von den beteiligten Patientenorganisationen sachlich geführte Austausch wird im Methodenreport vollkommen anders dargestellt und entspricht so nicht den Tatsachen. Eine Gleichsetzung mit möglichen Rückmeldung Dritter unter der Überschrift Selbsthilfegruppen ist unangebracht und stark tendenziös. Wir würden es begrüßen, wenn der Umgang mit uns künftig auf einem ähnlichen Niveau wie in anderen Ländern möglich wäre.

 

Unsere ausführlichen Vorschläge, für eine geeignete Anpassung der LL Müdigkeit mit entsprechenden Literaturangaben, hatten wir, für den Fall das die Erkrankung weiter Teil der LL Müdigkeit bleiben sollte, per 04.04.2017 an die DEGAM weitergeleitet. Wir erwarten von der DEGAM, dass unsere Rückmeldung aus der ersten Runde des Delphiverfahrens, wie bei den anderen Patientenorganisationen bereits geschehen, veröffentlicht wird. Den Inhalt haben wir zusätzlich auch auf unserer Homepage

https://www.lost-voices-stiftung.org/informationen/allgemeine-informationen/stellungnahme-ll-und-pace-trial/

öffentlich zugänglich gemacht.

 

Wir bitten Sie daher eindringlich, unserer Forderung nach Nachbesserung der Leitlinie Müdigkeit nachzukommen und bestenfalls die eigenständige Erkrankung ME/CFS aus der Leitlinie zu entfernen.

 

Andernfalls behalten wir uns auch juristische Schritte vor. Darüber hinaus sehen wir durch die gravierende Fehlinformation von Ärzten durch die DEGAM und der erheblichen Abweichung von der weltweiten Evidenzbasis einen ausreichenden Anlass, Hilfesuchende künftig auch zu einer Schadensersatzklage zu ermutigen, wenn diese durch einen Behandlungsfehler zu Schaden gekommen sind bei dem der Arzt sich auf die LL Müdigkeit beruft.

Mit freundlichen Grüßen

 

 

Nicole Krüger

Sprecherin Bündnis ME/CFS & 

Vorsitzende Lost Voices Stiftung

Bündnis ME/CFS Stellungnahme vom 18.03.2018
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